Verschiedene Medien haben am 24. Oktober 2008 über den neuesten Entscheid des Schweizer Bundesgreichts berichtet. So schrieb zum Beispiel NZZ online:
*** Zitatbeginn ***
Das Schweizer Bundesgericht hat in der umstrittenen Frage, ob muslimische Eltern eine Befreiung ihrer Kinder vom Schwimmunterricht verlangen können, anders entschieden als 1993. Es wies die Beschwerde einer tunesischen Familie ab und stellte damit die Integration über die Glaubensfreiheit.
Muslimische Schüler haben keinen Anspruch mehr auf einen Dispens vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht. Das Bundesgericht hat seine Praxis geändert und stellt die Integration nunmehr über die Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Eine tunesische Familie aus Schaffhausen hatte 2006 für ihre damals elf- und neunjährigen Söhne um eine Befreiung für den gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht in der Schule ersucht. Sie berief sich dabei auf ihren muslimischen Glauben, der den Knaben den Anblick leichtbekleideter Mädchen verbiete.
Gegen Urteil von 1993
Die Schulbehörden wiesen ihr Gesuch ab, was vom Erziehungsrat und vom Verwaltungsgericht bestätigt wurde. Die Behörden stellten sich dabei bewusst gegen ein Urteil des Bundesgerichts von 1993, das damals die Glaubens- und Gewissensfreiheit höher wertete als die Integration und die Gleichstellung der Geschlechter.
In ihrer Beratung vom Freitag sind die Lausanner Richter nun auf ihr Urteil zurückgekommen und haben die Beschwerde der Familie mit drei zu zwei Richterstimmen abgewiesen. Laut dem Gericht wurden den Integrationsanliegen in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion verstärktes Gewicht beigemessen.
Rechtsstaat soll Rückgrat zeigen
Dies habe sich auch in verschiedenen gesetzlichen Regelungen niedergeschlagen. Die Anzahl der Muslime in der Schweiz sei stark gestiegen; es gehe zudem vermehrt darum, Minderheiten überhaupt einzubinden. Der soziale Frieden und die Chancengleichheit seien zu sichern. Die Schule habe hier eine wichtige Aufgabe.
Glaubensansichten würden grundsätzlich nicht von bürgerlichen Pflichten entbinden. Alle Schüler hätten in diesem Sinn die obligatorischen Schulfächer zu besuchen. Der liberale Rechtsstaat dürfe Rückgrat zeigen und die Integration wichtig nehmen.
Wichtige Fähigkeit
Das Schwimmen als solches sei eine wichtige Fähigkeit. Indessen gehe es beim Sport auch darum, die Sozialisierung und das gemeinschaftliche Erleben zu fördern, auch mit Mädchen. Der muslimischen Vorschrift, keine leichtbekleideten Körper anschauen zu dürfen, wurde beschränktes Gewicht beigemessen.
Schwerer wiege im Vergleich dazu sicher das Gebot für Frauen, sich nicht entblössen zu dürfen. Heutzutage sei dem Bild weiblicher Blösse im Übrigen kaum zu entkommen, sei es auf der Strasse, in der Badeanstalt oder in den Medien.
Kantone können weniger streng sein
Weiter betonte das Gericht, dass sein Urteil für die Kantone nicht bedeute, dass sie keine Dispense mehr erteilen dürften. Eine weniger strenge Praxis sei ihnen durchaus erlaubt.
In seinem Schlusswort betonte der Präsident der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung, dass dies kein Entscheid gegen Muslime oder die Religionsfreiheit als solche sei. Das Urteil stehe vielmehr für starke staatliche Schulen, die ihren Integrationsauftrag zu erfüllen hätten.
Der in Lausanne anwesende Anwalt der Familie kündete an, das Urteil nach Rücksprache mit seinen Klienten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anfechten zu wollen. (Öffentliche Beratung vom 24.10.2008 im Verfahren 2C–149/2008)
*** Zitatende ***
Für Kenner der Materie war es klar, dass das alte Urteil von 1993 irgendwann einmal umgestossen werden würde. Es bleibt nun abzuwarten, wie dieses Urteil in der Praxis umgesetzt wird. Schliesslich ist es ja kein Geheimnis, dass z.B. im Aargau mit Abstand die meisten Dispensgesuche für Schwimmunterricht oder Teilnahme an Schullagern nicht von Muslimen, sondern von fundamentalistischen Christen, die meistens in Freikirchen organisiert sind, kommen. Wird das Urteil nun einseitig gegen Muslime angewandt, wäre dies nach der Minarettverbotsinitiative ein weiteres Beispiel für die immer offenkundiger werdende Diskriminierung der muslmischen Glaubensgemeinschaft in der Schweiz.