«[…] und es ist nicht für diejenigen geschrieben, für die der Islam nur eines von mehreren, mehr oder weniger nützlichen, Schmuckstücken des sozialen Lebens ist; vielmehr für jene, in deren Herzen immer noch ein Funke der Flamme lebt, die bei den Gefährten des Propheten brannte – die Flamme, die erst den Islam als soziale Ordnung und kulturelle Errungenschaft gross machte.» (Muhammad Asad)

 

— von Mariann Halasy-Nagy Liratni, Bern —

Buchrezension Islam am ScheidewegIn seinem in 1934 erstmals erschienen Buch befasst sich Muhammad Asad mit dem Zerfall der islamischen Gesellschaft, wie er durch die Jahrhunderte hindurch nachvollziehbar ist. Er versteht es, in kurzen, prägnanten Ausführungen nicht nur den geschichtlichen Verlauf aufzuzeigen sondern verbindet diesen mit einer harschen Kritik an die Muslime, welche seiner Ansicht nach ihren Lebensinhalt nach westlichen Normen ausrichten und somit zum Verlust der islamischen Werte beitragen.
Er würde aber nicht als einer der bedeutendsten islamischen Denker des 20Jh. gelten, würde er sich rein auf eine Anklage beschränken. Sein Buch ist ein historischer Aufriss, welcher die grundlegende Verschiedenheit zwischen der islamischen und der westlichen Welt aufzeigt und dem Lesenden klar darlegt, wieso diese beiden Gesellschaftsentwürfe sich diametral voneinander unterscheiden und folglich nicht miteinander vereinbar sind.
Sein Buch ist in acht Kapitel geteilt, wobei das achte Kapitel seiner Schlussfolgerung gewidmet ist. Er beginnt damit, den Weg des Islam aufzuzeigen und spricht von der Essenz des Islam, welcher das Geistige und das Materielle als ein harmonisches Ganzes sieht, denn «[d]ie ständige Anbetung Gottes in all den vielfältigen Handlungen des menschlichen Lebens ist die wirkliche Bedeutung des Lebens […]». (S. 31) Er hebt er den Islam ganz klar von den anderen Weltreligionen ab und erklärt den ihm inhärenten holistischen Ansatz, der die Menschen – sofern sie strikt nach den Vorgaben des Qur’an sowie der Sunna leben – befähigen sollte, in einer harmonischen und moralisch intakten Gesellschaft zu leben.
Diese Gesellschaft könne aber nur unter der Bedingung entstehen, dass sich die islamische Welt – und somit vor allem die Muslime – von der Bevormundung Europas befreien und sich ihrer Wurzeln wieder bewusst werden. Hierbei spricht er vor allem das Bildungssystem an, welches klar durch den Geist des Westens beeinflusst ist, ein Geist, der sich spätestens seit der Französischen Revolution von Gott und der Religion abgewandt und sich den materialistischen Utilitarismus der alten Römer als moralisch-gesellschaftlichen Massstab gesetzt hat. Eine islamische Bildung würde u.a. beinhalten, dass die heutige westliche Bildung in ihren Wurzeln auseinander genommen und eine «Archäologie des westlichen Wissens» stattfinden würde. Somit könnte das Trugbild aufgelöst werden, welches vortäuscht, dass der Westen der Massstab allen Wissens und sozialer Organisation ist. Nur so wäre es möglich, die Jugend zum Islam zurückzuführen. Denn die Nachahmung der westlichen Lebensweise – individuell und sozial – sei zweifellos die grösste Gefahr der Existenz, oder besser; der Wiederbelebung der islamischen Zivilisation. Eine Wiederbelebung, die er zweifelsohne in der Wiederaufnahme der Beziehung zu ihrer eigenen Vergangenheit sieht.
Eine Vergangenheit, die er auf die ersten Zeiten des Islam zurückführt und dadurch die absolute Wichtigkeit der Sunna hervorhebt. Er sieht in der Sunna den Garant für eine blühende muslimische Gesellschaft und unterstreicht dies, in dem er stipuliert, dass das Verhalten der Muslime in Bezug auf die Sunna das zukünftige Verhalten der Muslime zum Islam entscheiden wird. (S. 107) Darunter versteht er die Art und Weise, wie mit dem Inhalt umgegangen wird. Würde die Sunna erst mal als sachliche Notwendigkeit für einen Muslim anerkannt werden, habe jeder das Recht und sogar die Pflicht, ihre Funktion innerhalb der religiösen und sozialen Struktur des Islams zu erfragen, um zu dem am Anfang ausgeführten Holismus des Islams vorzustossen und somit zu einer harmonischen und moralisch intakten Gesellschaft beizutragen.
All dies bringt ihn in Kapitel acht zum Schluss, dass der Islam nicht «reformiert» werden müsse, weil er an sich schon vollkommen ist. Was reformiert werden muss, sei das Verhalten der Muslime «zu unserer Religion, unsere Faulheit, unser Versprechen; also unserer Mängel und nicht angebliche Mängel des Islam». (S. 121) Die Vermischung mit fremden kulturellen Einflüssen sei in dieser Hinsicht ein Rückschritt, destruktiv und daher unbedingt abzulehnen. Er plädiert für einen Umbruch, der im Inneren eines jeden Muslims stattfinden müsse und ihn zum Islam hinführe und nicht von ihm entferne. Der Mensch dürfe nicht interpretieren, er müsse folgen und er müsse verstehen, warum er folgt. «Denn das gesamte Bild können wir nicht erfassen, aber wir können darauf vertrauen, dass der Erschaffer des Systems dies kann und uns nur zu unserem Heil führen will.» (S. 125)

Sein Buch ist sehr klar und in zugänglicher Sprache geschrieben, seine Erklärungen und Ableitungen nachvollziehbar und untermauert. Es wird dem Lesenden klar, dass hier ein äusserst versierter Autor am Werk ist, der sich intensiv mit den Grundlagen zu seinem Buch auseinandergesetzt hat. Natürlich muss beachtet werden, dass es nun schon gut dreiviertel Jahrhundert alt ist und somit den neueren sozialen und politischen Entwicklungen nicht Rechnung tragen kann. Doch ist der Kern seiner Aussage vielleicht aktueller als er jemals gewesen ist; eine Tatsache, die einerseits erstaunen mag, andererseits dem Lesenden die traurige Bilanz der heutigen islamischen Welt und die Einstellung vieler Muslime (vielleicht sogar die eigene Einstellung?) zum Islam vor Augen führt. Dieses Buch rüttelt an den Standfesten der eigenen Überzeugung und regt zur intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Umfeld, in dem man lebt, an. Es ist kein Buch, das nach dem Lesen einfach wieder in der Bibliothek verschwindet, um in mondänen Gesprächssituationen wieder zum Vorschein zu kommen, sondern eher eines dieser Bücher, die zu kontroversen und intensiven Gesprächsrunden anregen.
Für Muhammad Asad gibt es nur einen Weg oder keinen – eine Aussage, die in der heutigen sozio-politischen Lage einen leichten Sprengstoff zu Polemiken ergeben könnte. Es fehlt an Lösungsansätzen, wie denn die zwei grossen Gesellschaftsentwürfe miteinander leben können. Er sagt, dies sei nicht möglich. Nicht miteinander, nur nebeneinander. Und hier setzt auch meine Kritik am Buch an, denn in der heutigen Welt – wie auch in der Welt der 1930er Jahre – ist ein striktes nebeneinander nicht (mehr?) möglich und Wege zum miteinander müssen gefunden werden, ohne dass die Muslime eben den Prozess unterlaufen, die er in seinem Buch beschreibt, besser, dass die Muslime zur Wiederbelebung des Islam beitragen können. Aber ich denke, dass er das Buch auch nicht in diesem Sinne geschrieben hat. Ich denke, dass er, obwohl er die heutige Situation auf globaler Ebene geschichtlich herleitet vor allem auf die Mikroebene abzielt, auf jeden Muslim, auf jedes Herz, das die wahre Mystik des uns aufgetragenen Auftrages erfassen und ausführen möchte. Dieses Unterfangen ist ihm mit dem Verfassen des vorliegenden Buches in kurzer und brillanter Weise gelungen.

Zum Autor
Muhammad Asad wurde im Jahre 1900 in der polnischen Stadt Lvov als Leopold Weiss geboren. Als Grossenkel eines orthodoxen Rabbiners und Sohn eines Rechtsanwaltes kam er schon früh mit Religion in Kontakt und sollte nach Wunsch seines Vaters zum Rabbiner ausgebildet werden. Diesen Plan verwarf er jedoch, arbeitete als Journalist und wurde schnell zu einem anerkannten Nahostkorrespondenten vor allem für die deutsche Frankfurter Zeitung.
Dank seiner Arbeit kam er in intensiven Kontakt mit der muslimischen Welt und konvertierte 1926 zum Islam. Nach seiner Konversion verbrachte er mehrere Jahre im nahen Osten und wurde zum engen Freund von namhaften arabischen Führern. Unter anderem traf er auf den grossen muslimischen Denker Dr. Sir Muhammad Iqbal, der vom Studium der islamischen Literatur Asads beeindruckt war und ihn bat, Sahih al Bukhari ins Englische zu übersetzen. Als Experte des islamischen Rechts spielte er eine wichtige Rolle bei der Gründung des pakistanischen Staates, welchen er 1953 als dessen Boschafter bei der UNO vertrat. Asads grösstes Projekt war es, den Qur’an ins Englische zu übersetzen. Unterstützt zuerst von der Schweiz, dann von Marokko, konnte er sein Werk, The Message of the Qur’an (Deutsch: Die Botschaft des Quran) 1980 vollenden. Er verbrachte 19 Jahre mit seiner dritten Frau in Marokko, bevor sie ins spanische Mijas zogen, wo er am 20. Februar 1992 verstarb und in einem kleinen islamischen Friedhof in Granada beigesetzt wurde.

Bibliographie
Asad, Muhammad 2007: Islam am Scheideweg. Mössingen: Edition Bukhara. (Original: 1934: Islam at the Crossroads.), ISBN: 9783000220951

Weitere Werke des Autors
– The Road to Mecca, 1954 (Deutsch: Der Weg nach Mekka)
– The Principle of State and Government in Islam, 1978 (Deutsch: Das Prinzip von Staat und Regierung im Islam)
– Sahih Bukhari: Early Days of Islam, 1978 (Deutsch: Sahih Bukhari: Die frühen Tage des Islam)
– The Law of Ours and other Essays, 1987 (Deutsch: Das unsrige Gesetz und andere Essays)