— von Hamit Duran, Turgi —

Der Stellenwert von Musik in muslimischen Ländern ist sehr umstritten und wird daher oft sehr kontrovers diskutiert. Die Meinungen reichen dabei von erlaubt (halaal) bis zu komplett verboten (haraam). Dies hat aber nicht verhindern können, dass sich im Laufe der Geschichte in muslimischen Kulturen sowohl religiös inspirierte als auch weltliche Musik entwickeln und in den verschiedenen muslimisch geprägten Kulturen verbreiten und etablieren konnte.

Insbesondere hat sich in der jüngeren Geschichte unter muslimischen Jugendlichen eine aktive und vielfältige Musikszene entwickelt, wobei die Musik oft als Ausdrucksmedium für die Jugendlichen dient und ihnen dabei hilft, eine eigene religiöse Legitimation ihres modernen Lebensstils zu entwickeln.

Das vorliegende Sammelwerk gewährt sehr interessante und aufschlussreiche Einblicke in die vielfältige regionale Musik, welche von muslimischen Jugendlichen in verschiedenen Ländern produziert wird. Die einzelnen Beiträge sind das Resultat einer Konferenz, welche im Herbst 2018 unter dem Titel «Rocking Islam» an der Universität Freiburg in Deutschland abgehalten wurde und sowohl in den nationalen Medien als auch bei im «Westen» lebenden muslimischen Jugendlichen auf grosses Interesse stiess.

Das Sammelwerk ist in verschiedene Kapitel unterteilt. Das erste unter dem Titel «Music and Youth Culture» beschäftigt sich mit der Entwicklung der muslimischen Jugendkultur im Angesicht der zunehmenden Globalisierung, welche durch das Internet, Smartphones etc. in ungeahntem Masse beschleunigt wird. Einer der Autoren, Kamaludeen Mohamed Nasir, benutzt in diesem Zusammenhang Begriffe wie «Glocalization», also der Vermengung von globalen Einflüssen (z.B. einer neuen Art religiöser Frömmigkeit) mit der lokalen Kultur. Bei Jugendlichen spricht die Wissenschaft dann von der sogenannten «Hybridisierung», mit welcher die Herauslösung bestimmter Formen aus existierenden Bräuchen und deren Zusammenführung mit neuen Formen zu neuen Bräuchen gemeint ist.

Des Weiteren werden die Einflüsse der modernen Massenmedien auf die Phonographie, also die Aufzeichnung von Musik und deren Verbreitung beleuchtet. Der letzte Beitrag von Silvia Ilonka Wolf in diesem Kapitel widmet sich exemplarisch der Rolle der Gruppe «Sabyan Gambus» während der indonesischen Präsidentschaftswahl im Jahre 2019. Trotz deren Selbstdarstellung als fromm, modern und gleichzeitig tolerant, hat ihr Auftreten bei verschiedenen Wahlkampfveranstaltungen, welche durch einen der Präsidentschaftskandidaten organisiert wurde, für viel Unmut gesorgt. Viele Fans sahen darin einen Widerspruch zwischen ihrer Selbstdarstellung und ihrer Parteinahme für einen Kandidaten. Sie verlor dadurch massiv an Glaubwürdigkeit.

Nach den eher theoretischen Beiträgen im ersten Kapitel, beleuchten die beiden folgenden Kapitel die konkreten Musikentwicklungen bezüglich Sounds, Songtexten und Publikum in verschiedenen Ländern wie Grossbritannien, Ägypten, Deutschland, den USA und Marokko.

Insbesondere in Grossbritannien ist seit den 90er Jahren ein starker Anstieg kultureller Aktivitäten zu beobachten. Diese umfassen Bereiche wie Film, Komödie, Print- und Online-Medien, Mode, etc. in deren Mitte hat sich eine dynamische Musik-Szene entwickelt. Der «Superstar» Sami Yusuf ist nur ein Beispiel dafür. Es zeigt sich dabei, dass im Verständnis muslimischer Jugendlicher moderne Kultur sehr wohl mit muslimischer Frömmigkeit in Einklang gebracht werden kann.

Der Beitrag von Carl Morris beleuchtet u.a. die Rolle der Frauen. Er stellt dabei fest, dass religiöse und kulturelle Leitplanken etabliert wurden, einerseits durch (selbsternannte) «Wächter» (Gatekeeper), aber auch durch bewusste und unbewusste Zensur der muslimischen Community. Durch die immer grösser werdende Vielfalt werden diese aber immer mehr ausgeweitet.

Während man also in Grossbritannien die Entwicklung einer zeitgenössischen muslimischen Musikkultur, die nach Auffassung der Produzenten und des Publikums im Einklang mit den Vorgaben des Islam steht, beobachten kann, können in anderen Ländern wie Ägypten und Marokko ähnliche, aber doch unterschliche Trends beobachtet werden.

In ihrer Analyse zeigt Gisela Kitzler, dass die Songtexte des neuen populären Musikgenres des «Mahraganât», welcher um 2005 in Kairo entstanden ist, sehr wohl Bezug zur Religion genommen wird («Anyone who loves our Lord, put your hands up!»). Und dies obwohl die Art und Weise der künstlerischen Darstellung so ganz und gar nicht zu muslimischen Prinzipien passt. Es zeigt aber, dass Religion einen integralen Bestandteil der Lebensrealität der Künstler und des Publikums in Ägypten bildet.

In weiteren Beiträgen werden z.B. der Einfluss des Islam auf die Schwarze Musikszene untersucht (Martin Gansinger), oder die Entwicklung einer vielfältigen Hip-Hop-Szene in Marokko, in der sich Jugendliche einen eigenen Raum geschaffen haben, um ihre Lebensanschauungen durch ihre künstlerische Tätigkeit zum Ausdruck zu bringen (Rachida Yassine).

Ein sehr interessanter Beitrag schildert die persönlichen Erfahrungen des Autors Daniyal Ahmed in einem Asylantenwohnheim in Heidelberg. Er konnte beobachten, wie Musik, falls sie richtig eingesetzt wird, die Kommunikation zwischen den Ansässigen und den Zugewanderten erleichtern kann und wie Musikerinnen und Musiker als kulturelle Botschafter wirken und kulturelle Grenzen durchbrechen können.

Und ja, es gibt sogar einen Beitrag zur muslimischen Musikszene in der Schweiz! In seinem Beitrag widmet sich Akbar Nour dem Thema, wie zwei Schweizer Rapper, Shah Rick aus Genf und Mel-K aus Lausanne, ihre hybride Identität zum Ausdruck bringen. Seine Erkenntnisse gewann er dabei im Rahmen der Studien für seine Doktorarbeit als auch als ehrenamtlicher Mitarbeiter eines sozialen Integrationsprojekts der Union Vaudoise des Associations Musulmanes (UVAM). Dabei führte er u.a. persönliche Gespräche mit den beiden Rappern und konnte sie dadurch direkt zu ihren Beweggründen befragen und tiefere Einblicke in das Spannungsfeld zwischen moderner Musik und normativem Islam gewinnen. Beide kritisieren in ihren Rap-Songs das Ungleichgewicht verschiedener politischer und sozialer Kräfte (Staat, Politik, Medien, etc.) und die Diskriminierung der Musliminnen und Muslime auf lokaler und globaler Ebene. Aber auch die individuelle Religiosität der beiden Künstler, die sich z.T. durch unterschiedliche Herkunft und Werdegang erklären lassen, werden in dem Beitrag beleuchtet.

Das letzte Kapitel des Sammelwerks widmet sich schliesslich dem Themenkomplex «Musik – Religion – Identität». Besonders interessant ist dabei der Beitrag von Meltem Peranic, der sich mit der Verschmelzung von populärer Musik und muslimischer Frömmigkeit befasst. Ihre Untersuchungen zeigen, dass die muslimische Jugend einen Weg gefunden hat, ihren Lebensstil mit ihrem Glauben zu vereinbaren und dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken. In diesem Zusammenhang wird auch von dem Pop-Nasheed-Phänomen gesprochen, das durch die Musik bekannter Musiker wie Yusuf Islam (aka. Cat Stevens) aus Grossbritannien, Raihan aus Malaysia, Dawud Wharnsby aus Kanada und Zain Bhikha aus Südafrika Mitte der 1990er-Jahre begründet wurde. Sie schlugen als erste eine Brücke zwischen traditionellen muslimischen Liedern (Nasheed), die praktisch ohne Musikinstrumente auskommen, und moderner Popmusik.

Damit aber nicht genug. Mit dem Erscheinen des ersten Musik-Videos von Sami Yusuf (GB) im Jahre 2005 unter dem Titel «Al-Mu’allim» (der Lehrer) wurde eine neue Ära eingeläutet und die muslimische Musik auf eine neue Stufe gehoben. In den folgenden Jahren sind immer mehr Künstler diesem neuen Genre beigetreten: Maher Zain, Mesut Kurtis, Harri J., Omar Esa, um nur einige zu nennen.

Der letzte Beitrag des Sammelwerks stammt von der Herausgeberin selbst, Fatma Sagir. Es handelt sich dabei um einen Forschungsbericht zum Thema Musik und muslimisch-weibliche Formen der Selbstdarstellung («Embodiments»). Sagir stellt zunächst dar, was im Allgemeinen von einer Muslimin im öffentlichen Raum erwartet und wie sie in den westlichen Medien dargestellt wird. Das Fehlen eines positiven medialen Bildes und die ungenügende Vertretung muslimischer Frauen in der Popkultur wurde von manchen jungen Musliminnen als Gelegenheit genutzt, eine neue selbstbestimmte Selbstdarstellung zu etablieren.

So entstand im Jahre 2013 in den USA die Mipsterz-Bewegung, die mit ihrem Musikvideo «Somewhere in America» für Furore sorgte. Sagir analysiert künstlerische Beiträge von Dina Torkia aus Grossbritannien und Mona Haidar, einer US-amerikanischen Aktivistin, deren Video «Ask a Muslim» im Jahre 2015 viral ging, und die im Jahre 2017 ihr erstes Musikvideo «Hijabi (Wrap my Hijab)» veröffentlichte, welches ihr zu internationaler Bekanntheit verhalf.

Alles in allem ist der vorliegende Sammelband sehr interessant und aufschlussreich bezüglich der Dynamik und Vielfalt der zeitgenössischen muslimischen Musik. Die Beiträge reichen von eher wissenschaftlich-trockenen und abstrakten Analysen zu sehr persönlichen Erfahrungsberichten, die z.T. tiefe Einblicke in die Szene gewähren. Es ist als für jeden und jede etwas dabei.

 

Zur Herausgeberin

Fatma Sagir ist Habilitandin am Lehrstuhl Populäre Kulturen von Prof. Dr. Markus Tauschek an der Universität Freiburg (D). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Muslimische Populäre Kulturen, Digitale Kulturforschung und Digitale Ethnographie.

 

Bibliografie

Fatma Sagir (ed.), Rocking Islam – Music and the Making of New Muslim Identities

2021, Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, vol. 4, 190 Seiten, br., € 29,90, ISBN 978-3-8309-4396-9

E-Book: € 26,99, ISBN 978-3-8309-9396-4