— von Hamit Duran, Turgi —
Am 11. September 2001 fand in Zürich die Vernissage zu einem neuen Buch von Philipp Dreyer statt: „Allahs Kinder sprechen Schweizerdeutsch“. Organisiert wurde diese vom Orell Füssli Verlag, dem Herausgeber dieses Buches, das 23 muslimische Jugendliche unterschiedlichster Herkunft porträtiert.
Wahrscheinlich haben sich schon viele Muslime an dem seltsamen Titel gestossen. Schade, dass Herr Dreyer trotz besseren Wissens, wie er anlässlich der Vernissage selbst zugab, auf diesem provokativen, wenn nicht gar beleidigenden Titel, beharrte. Man fragt sich zu Recht, weshalb. Dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass Herr Dreyer bereits ein anderes Buch mit dem Titel „Zwischen Davidstern und Schweizerpass“ veröffentlicht hat, ein Titel also, der für weit weniger Unmut unter den angesprochenen Mitbürgern gesorgt haben dürfte.
Das Spektrum der Interviewten reicht von tief religiös bis nahezu atheistisch. Da ist z.B. der 18-jährige Somalier Fadyl Awys aus Zürich, der überzeugt von seinem Glauben ist und sagt, dass es das Beste sei, nach dem Koran, dem Heiligen Buch des Islam zu leben. Oder die 17-jährige türkische Gymnasiastin Zehra Hatipoglu aus Oetwil an der Limmat, die bemerkt, dass das Leben ohne Kopftuch in der Schweiz einfacher wäre, aber es wäre nicht ihr Leben. Beide stossen in ihrem Leben immer wieder auf Unverständnis bei ihren Kollegen oder Mitschülern, wenn sie z.B. nicht rauchen oder keinen Alkohol trinken. Trotzdem sind beide davon überzeugt, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden.
Auf der anderen Seite des Spektrums haben wir z.B. die 20-jährige Perserin Golnaz Djalili aus Zofingen, die sich selbst als Atheistin bezeichnen würde. An ein Leben nach dem Tode glaubt sie nicht, Thora, Bibel und Koran betrachtet sie also philosophische Werke. Dafür sind ihr aber persische Traditionen wie das „Newroz“-Fest sehr wichtig. Ausführlich beschreibt sie, was die einzelnen Bräuche für einen Sinn haben.
Dazwischen gibt es natürlich viele Grautöne. Da ist die 21-jährige, in der Schweiz geborene Bosnierin Emina Hasic aus Zürich, die Arabisch lernt und das Kopftuch nur in der Moschee trägt. Es ständig zu tragen, dafür fühle sie sich noch nicht stark genug, ihr fehlten die Argumente gegen abfällige Bemerkungen. Sie holt im Fernstudium die Matur nach. Ihre Kinder will sie einmal islamisch erziehen, das sei der beste Schutz gegen die Verführungen einer oberflächlichen, glitzernden Welt.
Oder die 21-jährige Marokkanerin Samia Henni aus Mendrisio, die sich zwar streng an das Fastengebot während des Ramadan hält, es aber in Ordnung findet, wenn sie mit Freunden mit einem Glas Champagner anstösst.
Zu Wort kommt im Buch auch ein junges türkisches Paar, das sich in der Schweiz kennen gelernt hat und eine glückliche Ehe eingegangen ist. Die Frau ist eine der beiden Türkinnen aus Möhlin, deren Einbürgerungsgesuch wegen ihres Kopftuchs zweimal abgelehnt wurde. Ein weiteres Paar hat sich in einem irakischen Flüchtlingslager kennen gelernt und stammt aus derselben südirakischen Stadt.
Der 26-jährige Pakistaner Farhan Tufail aus Rheinfelden ist Doppelbürger, Unteroffizier der Schweizer Armee und übersetzt für die Basler Kantonspolizei. Über den Jihad, den «heiligen Krieg», äussert er sich sehr differenziert und grenzt ihn ab gegen den Terrorismus. Niemand dürfe sich Muslim nennen, der andere Menschen töte. Er wuchs während 14 Jahren ohne den Vater auf, bis dieser die Familie nachzog. Gespräche über Politik interessieren ihn mehr als solche über Frauen, wie sie seine Schweizer Freunde mit Vorliebe führten.
Es werden auch zwei sehr traurige Porträts gezeichnet. Der 23-jährige Türke Kadir Balitatli aus St. Gallen ist auf die schiefe Bahn geraten und in die Drogenszene abgestürzt. Dass er seit vier Jahren frei ist von Drogen verdankt er seinen muslimischen Kollegen. Sein Vater weiss von allem nichts. Auch wenn er es ihm erzählt hätte – verstanden hätte er ihn nicht. Er wird es erfahren, wenn Kadir ihm das Buch zeigt…
Im Buch kommt auch – ohne Namen – ein junges Mädchen zu Wort, das sich bitter über den eigenen Vater äussert, der sich so repressiv gebärdet, dass er ihr den Glauben vermiest hat. Mehr Glück hat die junge Kosovarin, die als Muslimin im jüdischen Altersheim in Lengnau Arbeit gefunden hat, dort die ganzen Bräuche mitmacht und manche Parallelen zwischen den beiden Religionen entdeckt.
Die Einleitung zu dem Lesebuch stammt von Samia Osman, Co-Präsidentin der Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz, die nicht nur die Schweizer, sondern auch die Eltern der porträtierten Jugendlichen dazu einlädt, diesen jungen Menschen die Chance zu geben, ihren Weg gleichberechtigt und selbstbewusst zu gehen.
Interessanterweise kommt kein einziger gebürtiger Schweizer Muslim zu Wort. Warum wohl? Hat Herr Dreyer wohl niemanden gefunden, oder ging es darum zu zeigen, dass der Islam eben doch noch immer etwas Fremdes in der Schweiz ist und es eigentlich gar nicht sein kann, dass ein gebürtiger Schweizer Muslim ist? Ich hoffe nicht, denn dann würde sich Herr Dreyer etwas vormachen und sein Buch wäre ein Schuss, der sein Ziel weit verfehlt hat.
Trotz allem ist das hier vorgestellte Werk auch für uns Muslime sehr interessant, gibt es doch aufgrund der sehr persönlichen Erzählungen einen interessanten Einblick in die Gefühls- und Denkwelt junger Muslime in der Schweiz.
Philipp Dreyer, Allahs Kinder sprechen Schweizerdeutsch, Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2001. Fr. 44.80.