Rund 80 Personen waren der Einladung des Verbandes Aargauer Muslime (VAM) gefolgt und hatten sich am 2. Oktober 2019 in der Moscheen der Islamischen Gemeinde der Bosniaken (IZBA) in Oberentfelden eingefunden. Sie folgten gespannt den Ausführungen der Teilnehmer am Wahlpodium, das von Khaldoun Dia-Eddine, Vizepräsident der Föderation der Islamischen Dachorganisationen in der Schweiz (FIDS), souverän moderiert wurde.

von Hamit Duran, Turgi

Zum VAM-Wahlpodium, dem ersten seiner Art, waren alle grossen Parteien im Aargau eingeladen worden. Aber nur drei Parteien erschienen, und zwar die Grünen mit ihrer Nationalratskandidatin Irène Kälin, die SP mit ihrem Ständeratskandidaten Cédric Wermuth und die BDP mit ihrem Nationalratskandidaten Roland Basler. Dies war offenbar auch dem Schweizer Radio aufgefallen. Im Vorfeld berichtete das Regionaljournal Aargau-Solothurn auf SFR1 darüber und stellte die Frage, warum die grossen bürgerlichen Parteien im Aargau, die sonst immer fordern, dass sich die Muslime mehr integrieren sollen, es nicht für nötig befunden haben, einen Vertreter oder eine Vertreterin ans Podium zu schicken. Auf Nachfrage bei den jeweiligen Sekretariaten erhielt der Reporter Pascal Meier die Antwort, dass sie keine Zeit, kein Interesse, eine zu volle Agenda, oder nichts von der Veranstaltung gewusst hätten. Im Interview erklärte der VAM-Pressesprecher Abdulmalik Allawala, dass von den bürgerlichen Parteien eine abgesagt, die anderen nicht einmal geantwortet haben. Damit haben sie eine Gelegenheit verpasst, sich mit den Musliminnen und Muslime auf Augenhöhe auszutauschen.

Zu Beginn stellte Moderator Dia-Eddine die Moschee, die 2006 gekauft und umgebaut wurde und mittlerweile rund 750 Mitglieder zählt, kurz vor. Nach der Vorstellung der Kandidatin und der Kandidaten ging es dann ans Eingemachte.

In einem ersten kurzen Statement brachte Basler seine Freude zum Ausdruck, dass er an dem Abend anwesend sein darf und so die Gelegenheit erhält, die muslimische Gemeinschaft besser kennenzulernen und Neues dazuzulernen. Kälin betonte, dass sie Brücken zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft bauen möchte. Wermuth hingegen bedauerte, dass die abwesenden grossen Parteien, die zwar gerne über, nicht aber mit den Musliminnen und Muslimen reden wollen, nicht präsent sind.

Die Parteiprogramme

Dia-Eddine konfrontierte dann die Podiumseilnehmer mit den Wahlslogans ihrer jeweiligen Parteien:

  • SP: «Zeit für einen Richtungswechsel»
  • BDP: «Langweilig, aber gut»
  • Grüne: «Unser Klima, deine Wahl»

Schaut man sich die Parteiprogramme aber genauer an, so sieht man, dass alle für eine bessere Familien- und Klimapolitik, Förderung der Wirtschaft, Erhaltung der Bilateralen mit der EU u.s.w. einsetzen. Aber wo ist dann der Unterschied?

Gemäss Kälin kommt die Ähnlichkeit der Parteiprogramme daher, dass sich alle Parteien an den aktuellen Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, orientieren. Die Grünen machen sich aber schon seit jeher stark für die Bewältigung der Klimakrise. Dazu gehört auch die Entwicklung umweltfreundlicher Technologien.

Wermuth sieht einen sozialpolitischen Stillstand, währenddessen der Reichtum der Wohlbegüterten weiter zunimmt. Auch könne die Klimakrise nicht durch Technologie alleine gelöst werden, sondern es braucht einen gesellschaftlichen Wandel: Zuerst kommen die Menschen und dann die Gewinne.

Ähnlich tönte es auch bei der BDP; Basler war auch der Meinung, dass eine Umverteilung der Finanzen, sowie die Entwicklung exportfähiger Technologien sehr wichtig sind für die Schweiz.

Migrationspolitik

Wermuth stellte fest, dass seit der Schwarzenbach-Initiative von 1970 nur noch über Migration gesprochen wird. Die Schweiz ist ein Migrationsland, hat dies aber noch nicht verstanden. Mit der Personenfreizügigkeit kam die grosse Wende, die aber auch zu einer Verhärtung in der Asylpolitik führte. Dies müsse geändert werden, die Schweiz muss auch ihre ethische Verantwortung wahrnehmen. Die Alternative sei nicht keine Ärzte aus Deutschland oder aus anderen Ländern, sondern gar keine Ärzte.

Auch Kälin stimmte dem zu und meinte, es seien nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, sondern das gesamte Pflegepersonal betroffen. Bezüglich Einbürgerung seien wir noch ein Entwicklungsland.

Basler stellte die rhetorische Frage, ob ein Auslandsschweizer, der seit 20 Jahren in Los Angeles lebt, näher am politischen Geschehen sei als ein Migrant, der seit 20 Jahren in der Schweiz wohnt. Eine Lösung wäre die Einführung einer reinen Staatsbürgerschaft, d.h., dass man ein Schweizer Staatsbürger werden könnte, ohne sich in eine Gemeinde einbürgern lassen zu müssen.

Religiöse Diskriminierung

Gemäss Wermuth gibt es zwei Ebenen. Auf der einen Seite ist die gesellschaftliche Ebene, auf der wir anerkennen müssen, dass es eine kulturrassistische Debatte gibt. Die zweite Ebene ist die des Staates, dessen Anerkennungspolitik nicht diskriminierend ausgestaltet werden darf. Konkrete Kooperationen mit muslimischen Gemeinschaften sind zu forcieren. Wenn muslimische Seelsorge im Kanton Zürich funktioniert, warum dann nicht auch im Aargau? Natürlich müssen auch die Muslime ihre Hausaufgaben machen.

Auch für Basler ist Diskriminierung nicht akzeptabel. Manchmal werden Fälle von Diskriminierung und Mobbing bagatellisiert und zu wenig ernst genommen. Eine schnellere Intervention unter Einbezug von Fachleuten sei daher nötig. Er sieht auch die Notwendigkeit, dass die BDP sich vermehrt mit den Musliminnen und Muslimen im Aargau austauscht.

Für Kälin wurden und werden Diskriminierungs-Kampagnen wie das Minarett- und das Burkaverbot national geführt. Bundesbern muss sich deshalb stärker in dieser Angelegenheit engagieren.

Fragen aus dem Publikum

Zum Schluss wurde das Podium dann für das Publikum geöffnet, was auch rege genutzt wurde.

So betraf eine Frage die alltägliche Diskriminierung die Musliminnen und Muslime immer wieder erfahren, z.B. bei der Stellensuche von Kopftuch-tragenden Frauen.

Kälin sieht für die Diskriminierung im Alltag kein politisches Patentrezept, das Problem könne nur gemeinsam angegangen werden. Die Politik Könne aber die Rahmenbedingungen dafür schaffen.

Wermuth verglich die Situation mit den italienischen Migrantinnen und Migranten, die in der 50er- und 60er-Jahren ebenfalls diskriminiert wurden. Der Unterschied zu den Muslimen sei aber, dass nun viele Italienischstämmige in Bundesbern sind und allein durch ihre Präsenz der Diskriminierung ein Riegel geschoben würde. Für ihn ist es daher  klar, dass sich Musliminnen und Muslime vermehrt politisch engagieren und als Folge davon im Parlament sitzen müssen. Erst dann höre die Diskriminierung auf.

Auch Kälin meinte, dass Muslime wie heute Abend vermehrt die Türen öffnen und Brücken bauen müssten. Ebenso Basler, der festhielt, dass aus kleinen Dingen manchmal grosse Dinge gemacht würden und die Medien daran nicht ganz unschuldig seien. Beide Seiten müssten sich bewegen und aufeinander zugehen.

Wermuth kam nochmal aufs Kopftuch zurück. Für ihr war das nie ein Problem, solange die Trägerin nur die Hotelzimmer putzte, als sie aber begann an die Universität zu gehen und zu studieren, sei es zum Problem gemacht worden. Abe auch Musliminnen und Muslime sollten sich nicht immer religiös definieren, sondern sich als Bürgerinnen und Bürger sehen und präsentieren.

Ein weiterer Publikumsteilnehmer erinnerte daran, dass man nicht vergessen dürfe, dass die Schweiz viel für bosnische und albanische Flüchtlinge getan habe. Ein anderer strich heraus, dass die Musliminnen und Muslime es wertschätzen sollten, dass sie in der Schweiz mit Kandidatinnen und Kandidaten für das Parlament unmittelbar und auf Augenhöhe diskutieren und debattieren können. Dies sei in vielen muslimischen Ländern noch nicht möglich.

Das Publikum war sehr engagiert und drückte sein Wohlwollen gegenüber den Podiumsteilnehmern durch häufigen und intensiven Applaus aus.

Schlusswort und Ausklang

Zum Abschluss durften die Podiumsteilnehmer sich nochmals mit einem Schlusswort ans Publikum richten. Wermuth betonte dabei, dass die Demokratie von der Beteiligung lebe. «Egal wen, aber geht wählen», war sein Aufruf.

Kälin bedankte sich nochmals ganz herzlich für die Einladung. Es liege nun an uns allen, die Mehrheiten im Parlament zu verschieben. Und Basler erinnerte daran, dass man panaschieren und kumulieren und somit Namen von einer Liste auf eine andere setzen könne.

Damit ging das erste, äusserst erfolgreiche VAM-Wahlpodium zu Ende. Im Anschluss hatten die Podiumsteilnehmer und das Publikum bei von der Moschee offeriertem Tee, Kaffee und türkischen Süssigkeiten die Gelegenheit, die Diskussion in ungezwungenem Rahmen fortzuführen. Dies wurde von vielen auch gerne genutzt, so dass sich so manche erst zu fortgeschrittener Stunde auf den Heimweg machten.

An dieser Stelle möchte sich der Verband Aargauer Muslime nochmals ganz herzlich bei den Podiumsteilnehmern, dem zahlreich erschienenen und engagierten Publikum und allen, die zum Gelingen dieses Abends beigetragen haben, ganz herzlich bedanken. Dies wird wohl nicht das einzige Wahlpodium des VAM bleiben.

Hier kann noch eine kleine Bildergalerie des Anlasses aufgerufen werden.